Veröffentlichungen
Der kleine Alexander
"Volk auf dem Weg" Nr. 6/2021
Der kleine Alexander
Süd-West-Sibirien, Oktober 1941.
Im Gebiet Omsk kommt ein Zug aus dem Wolgagebiet an. Aus den Viehwaggons steigen Menschen aus, erschöpft und völlig ermüdet von der langen Reise unter unmenschlichen Bedingungen. Es sind Wolgadeutsche, vertrieben aus ihrer Heimat, enteignet, entrechtet und als Saboteure und Spione abgestempelt.
Der kleine Alexander, zwei Jahre alt, schaut aus dem Viehwagon nach draußen. Er kann seine Augen wegen des hellen Lichts kaum öffnen, sie haben sich während der vierwöchigen Reise an die Finsternis gewöhnt. Seine alleinerziehende, verwitwete Mutter nimmt ihn auf den Arm und ruft ihre beiden anderen Söhne: ,,Johann, Peter! Kommt raus! Wir sind angekommen!“ Alexanders Oma klettert ebenfalls zögernd aus dem Waggon.
Die Familie hat Glück. Sie hat die Fahrt durch die Weiten Russlands überlebt. Ihre Nachbarn mussten aber unterwegs von ihrer kleinen dreijährigen Tochter Abschied nehmen. Das Kind war bereits vor der Abreise erkältet. Die Lungenentzündung hatte dem Mädchen nach einer Woche Zugfahrt den Atem genommen. Vergeblich hatte der Vater versucht, während des kurzen Zughalts den Wächter um Gnade zu bitten und das Mädchen zu einem Arzt zu bringen. Das war nur eines von
Hunderten Kindern und Alten, die während der Reise irgendwo in russischen Steppen neben der Eisenbahn begraben worden sind. Ganz eilig, ohne Abschied und ohne Kreuz.
,,Wo geht es weiter hin?“, ruft Alexanders Mutter. Keiner weiß Bescheid. Niemand spricht Deutsch. Ein Verwalter kommt herbei. Er ordnet an, die Familie Schönfeld solle in ein 50 Kilometer entferntes Dorf namens Bondarewka reisen: ,,Katja wird euch begleiten. Sie hat Deutsch in der Schule gelernt.“ ,,Reisen? Wie denn!? Ohne Transportmittel, ohne Pferd. Zu Fuß?“ - ,,Ja, zu Fuß!“
Der lange Fußmarsch durch die sibirischen Wälder und Felder beginnt. Auch der kleine Alexander marschiert mit seinen winzigen Füßchen neben der alten Oma. Ab und zu wird er von seiner Mutter oder der Oma auf den Schultern getragen. Auch wenn er hungrig und müde ist, weint er nicht mehr. Während der Zugfahrt wurden viel zu viele Tränen vergossen. Nach zwei schlaflosen Nächten kommt die Familie Schönfeld mit zwei weiteren wolgadeutschen Familien in Bondarewka an.
,,Wo finden wir eine Bleibe?“, fragt die Mutter die Begleiterin Katja. Der kalte sibirische Winter steht ja vor der Tür. ,,Wir haben schon für alles gesorgt“, antwortet sie. Ein alter maroder Kuhstall wird für Familie Schönfeld die Erstunterkunft sein. Zunächst muss aber der ganze Mist entsorgt werden. Die Mutter bekommt einen Spaten zugeteilt. Wenigstens dieses Werkzeug wird zur Verfügung gestellt.
Nach einigen Tagen ist der Stall vom Mist befreit. Zwei Betten werden gezimmert. Das neue Zuhause ist ,,eingerichtet“. Die Mutter kann mit ihren drei kleinen Kindern und der alten Oma einziehen. Die Kinder freuen sich. Die kalten Nächte unter freiem Himmel sind endlich vorbei. Glücklich klettert der kleine Alexander als Erster auf das mit Stroh bedeckte Bett.
Gleich am nächsten Tag kommt der Dorfverwalter herbei. Er macht der Mutter deutlich, dass es ab morgen zur Arbeit, zum Straßenbau geht. ,,Deine Alte kann auf deine Kinder aufpassen! Du wirst gebraucht! Es ist ja Krieg!“ Bereits vor Sonnenaufgang findet sich die Mutter mit den weiteren Neuankömmlingen am Straßengraben ein. ,,Wo sind eure Lopaten, Faschisten!?“, schreit der Aufseher. ,,Wir sind keine Faschisten! Wir sind Sowjetbürger! Was ist eine Lopata überhaupt?“, entgegnet die Mutter. Der Aufseher zeigt auf einen Spaten. ,,Russisch lernen, Sowjetbürger! Ab nach Hause, Lopaten holen!“ Wer keine Lopata hatte, musste mit bloßen Händen graben und die schweren Steine wegtragen.
Nicht nur Gerätschaften, alles mussten die Wolgadeutschen in ihrer Heimat an der Wolga zurücklassen – eigene Felder, Vieh, Haustiere. Nur ein paar Kissen und einige Kleidungsstücke durften sie mitnehmen.
Von früh bis spät – harte Arbeit ohne Lohn und Anerkennung. Als Entschädigung für die Enteignung an der Wolga, für den Verlust von Hab und Gut, bekommt die Familie Schönfeld nach einiger Zeit eine Kuh. Wenigstens Milch und Butter aus eigener Wirtschaft.
So beginnt die Geschichte meines Vaters, des kleinen Alexander, in Sibirien.
Im Januar 1942 erging ein neuer Erlass der Sowjetregierung. Demnach wurden die verbannten Sowjetdeutschen ab einem Alter von 15 Jahren in die sogenannte ,,Trudarmee“ mobilisiert. Auch die Mutter von Alexander wurde zur „Trudarmee“ einberufen. Sie sollte in einem Lager in der Taiga Bäume fällen. Ihre ,,Alte“ sollte auf die drei kleinen Kinder aufpassen. Die Familie schien auf diese Weise zum Tode verurteilt worden zu sein.
Dennoch: Der mutigen und verzweifelten Mutter gelang die Flucht direkt vom Eisenbahnwaggon. Es ging zurück nach Bondarewka durch die Wälder, damit kein Mensch sie sieht. Fast einen Monat lang versteckte sich die Mutter in einem Heuhaufen. Ihr drohten Verhaftung und Lagerstrafe. Eines Tages waren die Kräfte und die Geduld zu Ende. Sie schickte ihren Sohn Johann zum Dorfverwalter. Endlich hatte die Familie ein bisschen Glück. ,,Sie soll morgen wieder zur Arbeit erscheinen! Sie wird im Kolchos gebraucht!“, lautete seine Antwort auf die Mitteilung von Johann.
Sehr früh hat der kleine Alexander die Sorgen und das Elend der Kriegsjahre kennengelernt. Da seine Familie zu oft nichts zu essen hatte, musste er mit seinem älteren Bruder Peter betteln gehen. Die Oma ist nach ein paar Jahren an Hunger verstorben.
Um die Kinder am Leben zu halten, nahm Alexanders Mutter eines Tages im Herbst beim mühsamen Ährenlesen im Kolchos ein wenig Getreide mit und versteckte es in der Tasche. Sie wurde dabei von einem Aufseher erwischt und ausgepeitscht. Auch der kleine Alexander wurde einmal Opfer dieses Aufsehers. Als er an einem späten Abend sehr hungrig aufs Getreidefeld zum Ährenlesen ging, wurde er von ihm aus einer Flinte, die mit Salz geladen war, angeschossen. Das durch die Haut eingedrungene Salz bereitete dem Kind brutale und qualvolle Schmerzen. Die Narben verblieben ein Leben lang auf seinem Rücken.
Bereits als Jugendlicher war Alexander gezwungen, im Kolchos (staatlicher landwirtschaftlicher Kollektivbetrieb) in der Landwirtschaft und Viehzucht zu arbeiten. Bei der sibirischen Kälte bis zu 50 Grad musste er Kühe und Pferde füttern, tränken und Viehställe reinigen. Im Herbst half er mit seinen Altersgenossen bei der Ernte, im Frühling bei der Aussaat. Für die Arbeit gab es keinen Lohn. Es wurden nur noch Arbeitstage zwecks Rechenschaftsablegung gegenüber dem Dorfverwalter eingetragen und am Ende des Monats zusammengezählt. Die Arbeitsverweigerer wurden verhaftet und mit Freiheitsstrafe belangt.
Das Dorf durfte Alexander nicht verlassen, denn auch er stand als Deutscher unter der sogenannten Kommandanturaufsicht. Noch bis 1956 durften die sowjetdeutschen Familien ihren Verbannungsort nicht verlassen. Deren Aufenthalt wurde regelmäßig kontrolliert. Das Wort ,,Wolga“ wurde ihnen verboten. Das Deutsche sollte nach Plänen der Sowjetregierung für immer verbannt sein. Aber auch nach der Aufhebung der Kommandantur durften die Wolgadeutschen in ihre Heimat an der Wolga nicht zurückkehren. Erst 1964 wurden die Sowjetdeutschen offiziell vom Vorwurf der Kollaboration freigesprochen.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es eine große Bewegung unter den ehemaligen „Sowjetdeutschen“, die die Wiederherstellung der Wolgarepublik forderten. Diesem Begehren erteilte jedoch der erste Präsident der Russischen Föderation, Boris Jelzin, eine Absage.
Die Bundesrepublik Deutschland ermöglichte den Russlanddeutschen seit den 1970er Jahren die Einreise in die BRD und die Einbürgerung. Im Jahre 1995 kam auch der ,,kleine“ Alexander im Alter von 56 Jahren mit seiner Familie nach Deutschland. Die Familie hat sich in Burgkirchen an der Alz niedergelassen. Am 2. September 2019 ist der ,,kleine“ Alexander von uns gegangen. Er hinterließ sieben Kinder, fünfzehn Enkel und elf Urenkel.
Alexander Schönfeld, Altötting
Und plötzlich Verräter
"Alt - Neuöttinger Anzeiger" vom 28.08.2021
Und plötzlich Verräter
Kollektiv wurden die Wolgadeutschen vor 80 Jahren zu Kollaborateuren erklärt und deportiert, darunter Alexander Schönfeld
Burgkirchen/Altötting. Am 28. August jährt sich zum 80. Mal der Trauertag der Deutschen aus Russland. An diesem Tag ließ Stalin 1941 das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Erlass "Über die Umsiedlung der im Wolgagebiet ansässigen Deutschen" beschließen. Wenige Monate zuvor hatte Hitler-Deutschland die Sowjetunion überfallen. In der Folge wurden die etwa 400000 verbliebenen Wolgadeutschen der kollektiven Kollaboration beschuldigt, nach Sibirien und Zentralasien deportiert und dort in Arbeitslager der "Arbeitsarmee" gezwungen. Ihnen folgten weitere Sowjetdeutsche aus anderen Sowjetregionen. Bis Dezember verloren mindestens 894000 Menschen ihre Heimat, wie viele dabei und in den folgenden Monaten ihr Leben ließen, ist unbekannt. Die Schätzungen gehen von einem Viertel der Vertriebenen aus. Viele starben beim Transport oder in Zwangsarbeitslagern. Einer, der die Gräuel überlebt hat, ist Alexander Schönfeld. Zum Jahrestag hat sein gleichnamiger Sohn die Geschichte seines Vaters für den Anzeiger zusammengefasst.
Im südwestsibirischen Gebiet Omsk kommt ein Zug aus dem Wolgagebiet an. Aus den Viehwaggons steigen Menschen aus, erschöpft und völlig ermüdet von der langen Reise unter unmenschlichen Bedingungen. Es sind Wolgadeutsche, vertrieben aus ihrer Heimat, enteignet, entrechtet und als Saboteure und Spione abgestempelt.
Begraben in aller Eile, ohne Abschied und ohne Kreuz
Der kleine Alexander, zwei Jahre alt, schaut aus dem Viehwaggon nach draußen. Er kann seine Augen wegen des hellen Lichts kaum öffnen, sie haben sich während der vierwöchigen Reise an die Finsternis gewöhnt. Seine alleinerziehende, verwitwete Mutter nimmt ihn auf den Arm und ruft ihre beiden anderen Söhne: "Johann, Peter! Kommt raus! Wir sind angekommen!" Alexanders Oma klettert ebenfalls zögernd aus dem Waggon.
Die Familie hat Glück. Sie hat die Fahrt durch die Weiten Russlands überlebt. Ihre Nachbarn mussten dagegen unterwegs von ihrer kleinen dreijährigen Tochter Abschied nehmen. Das Kind war bereits vor der Abreise erkältet. Eine Lungenentzündung hatte dem Mädchen nach einer Woche Zugfahrt den Atem genommen. Vergeblich hatte der Vater versucht, während eines kurzen Halts den Wächter um Gnade zu bitten und das Mädchen zu einem Arzt zu bringen.
Es war nur eines von Hunderten Kindern und Erwachsenen, die während der Fahrt irgendwo in russischen Steppen neben der Eisenbahn begraben wurden. In aller Eile, ohne Abschied und ohne Kreuz.
"Wo geht es weiter hin?", ruft Alexanders Mutter. Keiner weiß Bescheid. Niemand spricht Deutsch. Ein Verwalter kommt herbei. Er ordnet an, die Familie Schönfeld solle in ein 50 Kilometer entferntes Dorf namens Bondarewka reisen: "Katja wird euch begleiten. Sie hat Deutsch in der Schule gelernt." "Reisen? Wie denn!? Ohne Transportmittel, ohne Pferd. Zu Fuß?" "Ja, zu Fuß!"
Der lange Marsch durch die sibirischen Wälder und Felder beginnt. Der kleine Alexander marschiert mit seinen winzigen Füßchen neben der alten Oma. Ab und zu wird er von seiner Mutter oder der Oma auf den Schultern getragen. Auch wenn er hungrig und müde ist, weint er nicht mehr. Während der Zugfahrt sind viel zu viele Tränen vergossen worden.
Ein alter Kuhstall wird zur Erstunterkunft
Nach zwei schlaflosen Nächten kommt die Familie Schönfeld mit zwei weiteren wolgadeutschen Familien in Bondarewka an. "Wo finden wir eine Bleibe?", fragt die Mutter Begleiterin Katja. Der kalte sibirische Winter steht ja vor der Tür. "Wir haben schon für alles gesorgt", antwortet sie. Ein alter maroder Kuhstall wird für die Familie Schönfeld die Erstunterkunft sein. Zunächst muss aber der ganze Mist im Stall entsorgt werden. Die Mutter bekommt einen Spaten zugeteilt – wenigstens dieses Werkzeug wird ihr zur Verfügung gestellt.
Nach einigen Tagen ist der Stall vom Mist befreit. Zwei Betten werden gezimmert. Das neue Zuhause ist ,,eingerichtet". Die Mutter kann mit ihren drei kleinen Kindern und der Oma einziehen. Die Kinder freuen sich. Die kalten Nächte unter freiem Himmel sind endlich vorbei. Glücklich klettert der kleine Alexander als Erster auf das mit Stroh bedeckte Bett.
Gleich am nächsten Tag kommt der Dorfverwalter. Er macht der Mutter deutlich, dass es für sie ab morgen zur Arbeit, zum Straßenbau geht. "Deine Alte kann auf deine Kinder aufpassen! Du wirst gebraucht! Es ist ja Krieg!"
Bereits vor Sonnenaufgang findet sich die Mutter mit weiteren Neuankömmlingen am Straßengraben ein. "Wo sind eure Lopaten, Faschisten?", schreit der Aufseher. "Wir sind keine Faschisten! Wir sind Sowjetbürger! Was ist eine Lopata überhaupt?", entgegnet die Mutter. Der Aufseher zeigt auf einen Spaten. "Russisch lernen, Sowjetbürger! Ab nach Hause, Lopaten holen!" Wer keine Lopata hat, muss mit bloßen Händen graben und die schweren Steine wegtragen.
Nicht nur Gerätschaften, alles mussten die Deutschen in ihrer Heimat an der Wolga zurücklassen – eigene Felder, Vieh, Haustiere. Nur ein paar Kissen und einige Kleidungsstücke durften sie mitnehmen.
Von früh bis spät – harte Arbeit ohne Lohn und Anerkennung. Als Entschädigung für die Enteignung an der Wolga, für den Verlust von Hab und Gut bekommt die Familie Schönfeld nach einiger Zeit eine Kuh. Wenigstens Milch und Butter aus eigener Wirtschaft.
So beginnt die Geschichte meines Vaters, des kleinen Alexander, in Sibirien. Im Januar 1942 erging ein neuer Erlass der Sowjetregierung. Demnach wurden die verbannten Sowjetdeutschen ab einem Alter von 15 Jahren in die sogenannte Trudarmee mobilisiert – ein besonderes System der Zwangsarbeit, das in der Sowjetunion in den Jahren 1941 bis 1946 vor allem für russlanddeutsche Jugendliche, Männer und Frauen aufgebaut wurde. Die "Trudarmee" bestand aus zahlreichen Zwangsarbeitslagern, überwiegend in Sibirien und am Ural.
Der Mutter gelingt die Flucht vom Zug
Auch die Mutter meines Vaters wurde zur "Trudarmee" eingezogen. Sie sollte in einem Lager in der Taiga Bäume fällen. Ihre ,,Alte" sollte auf die drei kleinen Kinder aufpassen. Die Familie schien auf diese Weise zum Tode verurteilt zu sein.
Doch der mutigen und verzweifelten Mutter gelang die Flucht direkt vom Eisenbahnwaggon. Es ging zurück nach Bondarewka durch die Wälder, damit keiner sie sah. Fast einen Monat lang versteckte sie sich in einem Heuhaufen. Ihr drohten Verhaftung und Lagerstrafe. Schließlich waren ihre Kräfte und ihre Geduld zu Ende. Sie schickte ihren Sohn Johann zum Dorfverwalter, und endlich hatte die Familie ein bisschen Glück: "Sie soll morgen wieder zur Arbeit erscheinen! Sie wird im Kolchos gebraucht", lautete seine Antwort auf Johanns Mitteilung.
Sehr früh lernte der kleine Alexander die Sorgen und das Elend der Kriegsjahre kennen. Da seine Familie zu oft nichts zu essen hatte, musste er mit seinem älteren Bruder Peter betteln gehen. Die Oma starb nach ein paar Jahren an Hunger.
Um die Kinder am Leben zu halten, nahm Alexanders Mutter eines Tages im Herbst beim mühsamen Ährenlesen im Kolchos ein wenig Getreide mit und versteckte es in der Tasche. Sie wurde dabei von einem Aufseher erwischt und ausgepeitscht.
Auch der kleine Alexander wurde einmal Opfer dieses Aufsehers. Als er eines späten Abends sehr hungrig aufs Getreidefeld zum Ährenlesen ging, wurde er von ihm mit einer Flinte, die mit Salz geladen war, angeschossen. Das durch die Haut eingedrungene Salz bereitete dem Kind qualvolle Schmerzen. Die Narben blieben ein Leben lang auf seinem Rücken.
Bereits als Jugendlicher war mein Vater gezwungen, im Kolchos in der Landwirtschaft und Viehzucht zu arbeiten. Bei sibirischer Kälte bis zu 50 Grad musste er Kühe und Pferde füttern, tränken und Viehställe reinigen. Im Herbst half er mit seinen Altersgenossen bei der Ernte, im Frühling bei der Aussaat. Für die Arbeit gab es keinen Lohn. Es wurden nur noch Arbeitstage zwecks Rechenschaftsablegung gegenüber dem Dorfverwalter eingetragen und am Ende des Monats zusammengezählt. Arbeitsverweigerer wurden verhaftet und mit Freiheitsstrafen belangt.
Von der Sowjetunion ausging es nach Burgkirchen
Das Dorf durfte Alexander nicht verlassen, denn auch er stand als Deutscher unter Kommandanturaufsicht. Noch bis 1956 durften die sowjetdeutschen Familien ihren Verbannungsort nicht verlassen; ihr Aufenthalt wurde regelmäßig kontrolliert. Das Wort ,,Wolga" wurde ihnen verboten, alles Deutsche sollte nach den Plänen der Sowjetregierung für immer verbannt sein. Auch nach Aufhebung der Kommandantur durften die Wolgadeutschen nicht in ihre Heimat an der Wolga zurückkehren. Erst 1964 wurden sie offiziell vom Vorwurf der Kollaboration mit Hitler-Deutschland freigesprochen.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es eine große Bewegung unter den ehemaligen "Sowjetdeutschen", die die Wiederherstellung der Wolgarepublik forderten. Diesem Begehren erteilte jedoch der erste Präsident der Russischen Föderation, Boris Jelzin, eine Absage.
Die Bundesrepublik Deutschland ermöglichte den Russlanddeutschen verstärkt ab Ende der 1980er Jahre die Aussiedlung in das Land ihrer Vorfahren. 1995 kam auch mein Vater im Alter von 56 Jahren mit seiner Familie nach Deutschland. Die Familie ließ sich in Burgkirchen nieder. Am 2. September 2019 ist der ,,kleine" Alexander von uns gegangen. Er hinterließ sieben Kinder, fünfzehn Enkel und elf Urenkel.
Autor Alexander Schönfeld, Sohn des Hauptprotagonisten der Geschichte, praktiziert heute als Rechtsanwalt in Altötting.
Eine gemeinsame Mentalität
Interview für die Zeitung "Alt-Neuöttinger Anzeiger" vom 28.08.2020